Nachdem sich das romantische Paradigma weitgehend erschöpft hat, stehen sich in der Kunst- und Literaturgeschichte ab Mitte des 19. Jahrhunderts zwei klar geschiedene Optionen gegenüber: Während einerseits Realismus und später Naturalismus ihre Welt- und Wirklichkeitsentwürfe auf das sozial Relevante und Brisante ausrichten, findet sich auf der anderen Seite eine Vielzahl von Strömungen oder Schulen, die eines gemein haben: Ihr Fokus ist die Kunst, und zwar nichts als eine möglichst autonome Kunst, gleich ob diese aus Warte des heutigen Geschmacks als eher schön oder hässlich erscheint. ‚L’art pour l’art‘, ‚die Kunst um der Kunst willen‘ — lautet die entsprechende Losung des Ästhetizismus, der in der Literatur wie in den bildenden Künsten zuallererst auf die formale Perfektion eines Werks abstellt und stattdessen gesellschaftliche oder gar politisch engagierte Ansprüche zurückweist.
Damit einher geht ein oftmals exklusives, wenn nicht gar elitäres Verständnis davon, wie Kunst sich zu gerieren hat und wie Künstler*innen ihrer Umwelt begegnen. Ein regelrechter Kult, der die stilistische Virtuosität literarischer Äußerungen ebenso betrifft wie die Ästhetik der menschlichen Existenz — nicht umsonst stammt hierher der Epochentypus des u.a. von Oscar Wilde verkörperten Dandys –, führt zur Priorisierung wertvoller und seltener, eleganter und stets anspruchsvoller Gegenstände und Motive, Repräsentationsmuster und Darstellungsverfahren. Literarisch tritt somit vor allem die Vermittlungsseite eines Textes in den Vordergrund, der etwa durch seine musikalischen und metrischen Qualitäten, durch mannigfaltige Bildungsreferenzen (z.B. aus der Mythologie), durch poetologische (Selbst-)Reflexivität und nicht zuletzt durch Bezugnahmen auf andere Kunst- und Medienformen (transposition d’art) zu überzeugen sucht. Eine besondere Sensibilität für die Oberfläche und für das Ornamentale sowie eine ausgeprägte spielerische Komponente abseits lebensweltlich relevanter Botschaften kennzeichnen mithin ästhetizistische Werke.
In der Kunst- und Literaturgeschichte der beginnenden Moderne (ab ca. 1850) gelten sonach u.a. als ästhetizistische Bewegungen: Präraffelitismus, Parnasse, Symbolismus, Décadence, Fin de siècle, Modernismo, Impressionismus, etc. Ferner wird der Terminus des ‚Ästhetizismus‘ nicht nur historisch, sondern auch typologisch für jedwede künstlerische Praxis gebraucht, deren Konzentration auf ihre formale Meisterschaft die Inhalts- bzw. Geschichtsseite überwiegt.
(Kurt Hahn)
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Théopohile Gautier: Mademoiselle de Maupin, 1835 (« Préface »); Charles Baudelaire: « Le Peintre de la vie moderne », 1863; Annette Simonis: Literarischer Ästhetizismus: Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000; Stephen Calloway / Lynn Federle (Hrsg.): The Cult of Beauty. The Aesthetic Movement 1860-1900 (Victoria and Albert Museum), London 2011.