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Gibt es einen Text ohne andere Texte?

Ist in den Literaturwissenschaften von Intertextualität die Rede, fallen zunächst zwei Namen: Michail Bachtin (1895-1975) und Julia Kristeva (*1941). Bachtin geht von einer grundsätzlichen Dialogizität der Sprache, d.h. einer Redevielfalt aus, in der sich Worte und Äußerungen immer aufeinander beziehen. Ihre Strukturen und Kontexte befinden sich mithin in stetem Austausch und in dauernder Transformation, was etwa die permanente Veränderung von Konnotationen anzeigt. Intertextualität kann enger gefasst oder weiter gedacht werden: als konkrete Bezugnahme von (literarischen) Texten auf andere (literarische) Texte — aus denen z.B. direkt zitiert wird –, jedoch ebenso als generell unhintergehbares Verwobensein von Texten mit anderen Texten. Letzteres wird oftmals im Bild des Textes als Gewebe zum Ausdruck gebracht. Die bulgarisch-französische Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva übernimmt von Bachtin vor allem dessen dynamischen Textbegriff und entwickelt ihn kultursemiotisch weiter. 1967 erscheint ihr Aufsatz „Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman“ („Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“), in dem sie Bachtins Subjektbegriff öffnet, den Text als Netz aus Zitaten definiert und, kurz gesagt, Bachtins Vorstellung einer dialogischen Sprache um das radikale Moment einer als Intertextualität aktualisierten Intersubjektivität ergänzt. Nicht mehr einzelne Subjekte (z.B. Autorinnen und Autoren) interagieren nunmehr, sondern Texte mitsamt ihren Entstehungsbedingungen, wie Kristeva in einem berühmten Diktum ausführt: „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.“

Julia Kristeva differenziert darüber hinaus zwischen dem Phänotext — der uns beim Lesen konkret vorliegende (etwa literarische) Text — und Genotexten, d.h. Texten, aber auch anderen Strukturen, die ‚unter‘ oder ‚in‘ dem Phänotext liegen und diesen solcherart mitformen. Diese Unterscheidung trifft sie in einer Zeit und in einem literaturtheoretischen bzw. epistemologischen Horizont, in dem andere Intellektuelle wie Roland Barthes, Maurice Blanchot, Jacques Lacan oder Michel Foucault ähnliche Denkfiguren und vergleichbare Konzeptualisierungen prägen: Sie alle hinterfragen abendländische Subjektvorstellungen durch eine markante Hervorhebung der Zeichenhaftigkeit, Textualität und Prozessualität von Texten. Die sich alsbald ausbildende Intertextualitätsforschung hat sich von Bachtin und Kristeva aus in verschiedenste Richtungen fortentwickelt und wurde unter anderem von Roland Barthes („La Mort de l’auteur“, 1968 / „Der Tod des Autors“) oder Harold Bloom (The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry, 1973 / Einflussangst: Eine Theorie der Dichtung) in kreativen Neukontextualisierungen erweitert sowie von Gérard Genette (Palimpsestes — La Littérature au second degré, 1982 / Palimpseste — Die Literatur auf zweiter Stufe) mit einem reichen terminologischen Inventar systematisiert.

(Martina Bengert)

ZUM WEITERLESEN

Julia Kristeva: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“ [1967], in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1972, S. 345-375; Julia Kristeva: „Problèmes de la structuration du texte“, in: Théorie d’ensemble, Paris 1968; Roland Barthes: Le Plaisir du texte, Paris 1973; Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985; Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt/Main.