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Wie bewusst lässt sich das Unbewusste in der Literatur(wissenschaft) machen?

Sigmund Freuds (1856-1939) Psychoanalyse ist seit ihren Anfängen mit der Literatur verbunden. Wir alle — und das heißt bei Freud zunächst einmal alle Männer, alle Brüder der Urhorde — wollen unseren Vater töten und mit unserer Mutter schlafen: Voilà der Ödipuskomplex, der seinen Namen freilich aus der Literatur — Sophokles‘ König Ödipus — erhalten hat. Unabhängig davon, ob man sich nun gegen solche Thesen stellt oder sie mehr oder minder akzeptiert, Freud ist zweifelsohne Gründungsfigur des psychoanalytischen Diskurses, der auch Einzug in die Literaturwissenschaft gehalten hat. Je nach Perspektive (autorbezogen, textzentriert oder figurenpsychologisch) geht man davon aus, dass das Dichten als Phantasieren gewissermaßen eine Ersatzhandlung, eine Wunscherfüllung oder eine Sublimierungsleistung ist; dass in Texten sonach das Unbewusste (nicht das Unterbewusstsein!) zur Sprache kommt und Verdrängtes oder Traumatisches wiederkehrt.

Psychoanalytisch informierte Literaturwissenschaft, wie sie neben Freud vor allem der französische Analytiker und Psychiater Jacques Lacan (1901-1981) inspirierte, versucht in einer hineinhorchenden Lesart buchstäblich andere, ja unerhörte Stimmen im Text zu vernehmen. Bildverschiebungen (Metonymien) und Bildverdichtungen (Metaphern) eröffnen die Lektüre auf einen unabschließbaren Interpretationsprozess. Beispielsweise beschreibt Freud, dass sich das Verdrängte im Unbewussten in einem „Zustande der Latenz“ befindet und dass die verdrängte Triebrepräsentanz nicht daran gehindert wird, im Unbewussten „Abkömmlinge zu bilden und Verbindungen anzuknüpfen“. Sie „wuchert dann sozusagen im Dunkeln“ bis zur Wiederkehr des Verdrängten. In Fehlleistungen wie in Versprechern (lapsus linguae) oder im Verschreiben (lapsus calami) zeichnet sich die Spur dieses Durchbruchs ab.

(Gregor Specht)

ZUM WEITERLESEN

Sigmund Freud: „Die Traumdeutung“; „Das Unbewusste“; „Die Verdrängung“; „Das Unheimliche“, in: Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud, London 1952; Jacques Lacan: Schriften I/II, Wien/Berlin 2015/2016.